Montag, 17. Juni 2013

...vom Rande der Erde...

    
Theìa: Immaculata, Vers XXIV
...egal, wie weit... und auch die Zeit
bedeutungslos erscheinen mag;
...doch ein Moment, auf ewig trennt,
und Schmerz sei groß, es kommt der Tag.

… ein Zauber umrundet die Welt...
 
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So hatte es sich in den Herbsttagen unseres Berichtes zugetragen, daß der duestere Aldar die von ihm geschmiedeten, scheinbar unzerstoerbaren Ketten auch auf der anderen Seite des Erdballes zum Versuche gebracht hatte. Tarja, Oberste der Blumendamen, welche im Grunde keinen Einfluß auf jenes Geschehen haben konnte, hatte sich in ihr Los gefuegt - ein Vorgang, nur allzu vertraut...

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Doch nein, etwas war anders.

Im prunkvollsten Ornat, welchem man in jenem Teil der Welt habhaft werden konnte, fuer die verschiedenartigen zu erwartenden Zeremonien in unterschiedlichen Farbkombinationen erworben, war sie in den fruehesten Morgenstunden, welche allein ihr die Sicherheit der Einsamkeit zu schenken vermochten, zum Strande geeilt, noch nicht genau um die naechsten Schritte wissend, jedoch getrieben, zielgenau und kraftvoll getrieben...

Und waehrend sie mit ihren Fueßen im lauwarmen Wasser der sanften Wellen die kurze Daemmerung nach einer milden Seenacht hier am suedchinesischen Meer genoß, ließ sie ihre Gedanken schweifen zu den rauheren Gefilden ihrer Heimat... dort, wo man sich statt des verzaubernden Gesaeusels der Palmenwedel dem frischen Duft der Eichenwaelder und  Buchenschonungen hingab...

So verweilten sie unweigerlich am großen heimatlichen Urwalde, wanderten weiter ins Tal und, einem inneren Zwange folgend, zog es ihren Geist in Richtung Divi-Blasii, dort wo im Catlab Marc Silva ganz sicher um diese Zeit zu finden war...

Die merkwuerdigen Vorkommnisse der letzten Tage hatten ihr ein eigenartiges Gefuehl des Hoffens, eine fast frohe Erwartung in die Zukunft zuteil werden lassen.

Wuerde man den Begriff der Vorahnung zur Verwendung bringen, waere man dem Ganzen nicht gerecht, es war tiefer, allumfassender... und wie der Leser weiß, handelte es sich schlichtweg um den Bann des Acantique.

Und umschlungen von den Fluegeln jener machtvollen Zauber des Bannes schickte sie sich an zu etwas Neuem, entwickelte hier am Strand die Idee einer Botschaft. Ohne sich bewußt zu sein, welch wahnwitziges Unterfangen ihr Vorhaben bedeuten wuerde, war sie doch getrieben, gezogen von einer Kraft, staerker als bisher Erlebtes, so intensiv und allwissend wie Instinkte, welche den Baeren zum Winterschlafe bringen und den Pfau ein Rad schlagen lassen...die Macht des Bannes.

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So begann sie denn ihr Werk im Wellenrauschen am Rande des Pacifics. Einige Tage zuvor hatte sie von Silva im Geheimen eine Botschaft erhalten,   eine interessante Kombination aus Reimen, eigenartig gestaltet und seltsam schluessig, wenn man sie der exakten Reihe nach verwandte.... jene Reime, Hauptteil des Spiegelwerkes SPCM VI, entwickelt aus den alten Uebersetzungen und in unzaehligen Naechten im wissenden Holze gebannt.

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Die Silben, welche sie nun praezise und rhythmisch dem Suedseewinde entgegensang, hatte sie auswendig lernen muessen, denn im Spiegel nur waren die Symbole in der noetigen Reihenfolge erlesbar, ein Umstand, welcher zu allen anderen Zeiten hervorragend zum Verbergen der Botschaften vor allzu neugierigen Blicken geeignet war.

Und nur wirklich Geuebte- etwa altmodische Schriftsetzer, vertraut mit dem Erstellen von spiegelverkehrten Druckvorlagen- haetten die umgekehrten Lettern fließend entziffern koennen.

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Divi-Blasii hatte ihm mit ihren Glocken einen schmeichelnden Gruß gesendet und erinnert, daß die Dunkelheit nicht mehr lange fuer uebermaechtige Versteckspiele ihre dunklen Arme ueber der Stadt ausbreiten wuerde. Wie so oft hatten das Studium von Teilen der alten Schriften sein Nachtwerk bedeutet.

Und da geschah etwas Neues. Eigenartige Spannungen, eine undefinierbare Unruhe ergriffen ihn.

Im Zuge rund um die Erforschung und Erweckung einer Spiegelmuse im Fleische hatte er so viel erlebt, vermutlich war einiges vonnoeten, ihm jetzt Teile seiner Fassung zu stehlen.

Wahrnehmbar war im Moment ein unterdruecktes Rauschen, eigentlich zu leise fuer menschliche Ohren. Neu waren die Ursache und Ausloeser. Marc blickte aus den auch nachts ungeschlossenen Fenstern in den Nachthimmel mit Symbolen des Zodiac, gebildet aus unsagbaren Lichtquellen, kaum verdeckt durch einzelne Wolkenkissen, doch diese schoen geformt...

wahrscheinliche Wohnstaetten von fuer Erdenmenschen Unheimlichem...

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Am anderen Ende des Doppelkontinentes auf der anderen Seite der Weltkugel, so weit entfernt, daß ein direkter Tunnel durch den Erdmantel wesentlich kuerzer waere als jeder moegliche Weg auf der Oberflaeche, hatte Tarja nun den ersten Reim beendet.

Und waren die Wellen jetzt nicht leiser, genauso wie die Geraeusche der Tierwelt, einer manigfaltigen und nachtaktiven Welt, und hatte der Wind sein sonst so stetes Spiel hier am Strande beendet? Sie merkte auf, und nein, der Orbit der Tierwelt, die Wellen, all das war nicht leiser.....es gab sie Nícht MEHR! ...spiegelglatte Flaeche, soweit das Auge reichte....und das Rauschen in den Kronen der Palmen, nein, Stillstand...absolute und jungfraeuliche Stille, bis auf ihr Atmen und ....nein, es war absolute Ruhe, als wenn sie im Hier gefangen war, die Zeit, eingefroren fuer sie, der Moment konserviert...

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Trauriges Miauen fand seinen Weg vom alten Gerberviertel herueber, in der Gartenwildnis seines Forscherkollegen R. Lange gaben sich wohl die kleinen und nicht dem Menschen hoerigen vierbeinigen Stadtjaeger einem Liebestanze hin.

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Nun, das Unbekannte, fast eine Art Bewußtsein Verstroemende kam von irgendwo außerhalb des Catlab- Studio, und bisher hatte sich alles, was fuer Unwissende nicht erklaerbar war, innerhalb der Werkstaetten abgespielt, abgesehen von der Identifizierung des Fleisches fuer seine Spiegelmuse in Gestalt von Miniroecklein Tarja....

und, nein, nicht.... TARJA... KEIN IRRTUM....

Silva starrte in den kuehlen Nachthimmel, die Wolkenformation hatte vor seinen Augen eine Gestalt erhalten. Erst verschwommen, bald weiter verdichtend und die meist unsichtbaren Teilchen der Umgebung buendelnd ergaben sich reale Zuege, unverkennbar ein menschliches, nein, IHR menschliches Antlitz...leichte Andeutungen der Augenbrauen und Nuestern, die wohlbekannte Form der Lippen, eine definierte Linie des Halses und der Schultern, selbst eine Clavicula unterm Kleide aus naechtlichen Tautroepfchen erahnbar...

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So fuhr sie denn fort in ihrem Gesange, den zweiten Teil der Reime liebevoll dem Ozean schenkend, so sanft und doch kraftvoll, Sirenen gleich, welche die alten Sagen bevoelkern und jede Triere und jedes Maennerherz dem sicheren Untergange zu weihen verstehen... verlockend und verderbend zugleich, die Urtriebe einer jeden weiblichen Seele verkoerpernd...

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Und Marc war wieder gebannt, wie schon so haeufig in den letzten Tagen. Und so faszinierend das ihm gebotene Schauspiel sich ihm darbot, ihn gefangen nahm, diese in einer Wolkenformation manifestierte Liebeserklaerung- in jener Nacht um den halben Erdball gewandert...zu ihm an den Urwald des Hainich - ihn auch fesselte, vergaß er doch nicht seinen nuechternen Forschertrieb, beobachtete, versuchte sich auf die Details zu konzentrieren, baute unsichtbare Gedankenstuetzen fuer die spaetere Dokumentation...

Zudem war das Gebilde vor ihm in einer staendigen Transformation begriffen, waren jetzt doch Arme und sogar Haende erkennbar, Haende, ihre Flaechen darbietend zum imaginaeren Gruße und einen gehauchten Kuss erwartend...

Ja, diese Geste war so unmißverstaendlich, die Erkenntnis ueber den Hintergrund des gerade Beobachteten traf ihn so heftig, so froestelnerzeugend, Hitze und Kaelte im gemeinsamen Spiel durch seine Adern wandernd...bald wohlige Schauer verbreitend, dann wieder ein leichtes und angenehmes Zittern hervorrufend....

Marc hob eine Hand langsam zum Gruße, fluesterte leise in Richtung der halbtransparenten Erscheinung den Namen ..chár-Taé.... und ja, das Erwartete geschah... waehrend sich das Bild langsam aufzuloesen begann, durchscheinender wurde, zoegernd den Blick auf die Sternbilder der herbstlichen Nordhalbkugel preißgab, formten sich im letzten Hauch die Lippen aus Wolkenstaub zu den Worten....


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